Freitag, 11. Mai 2012

Vårmøte lofotleger

Lasst uns diesen Begriff auseinandernehmen:

vår = Frühling, eine Jahreszeit, die sich hier oben nicht wesentlich vom mitteleuropäischen Winter unterscheidet

møte = Treffen/Besprechung

lofot = Name der Inselkette. "Lofoten" ist die bestimmte Form, die im Norwegischen den bestimmten Artikel ersetzt.
ein Lofot = "lofot"
der Lofot = "lofoten"
Ist klar, ne?
Genau so verhält es sich übrigens bei der berühmten Postschifflinie "Hurtigruten". Im Gegensatz zur für uns Deutsche naheliegenden Annahme, dass es sich um "die Hurtigruten" (Mehrzahl) handelt, ist die korrekte Übersetzung "die hurtige/schnelle Route". Der Name "Lofoten" bedeutet übrigens "der Luchsfuß", was mit etwas Fantasie an der Krallenform der Inselgruppe liegen könnte.

leger (nicht französisch auszusprechen!), Mehrzahl von "lege"  = "Arzt". In der Tat ein merkwürdiges Wort! Darauf gründet auch meine Idee, sollte ich einmal eine Gemeinschaftspraxis in Norwegen eröffnen, diese "Legebatteri" zu nennen.


Nun, es geht also um das Frühlingstreffen der Lofoten-Ärzte, an dem ich teilnehmen durfte. "Es werden viele halbwegs spannende und nicht so spannende Dinge diskutiert", erzählten mir die Turnusärzte, "und es gibt 'gratis middag'!". Wenn das kein Grund war, hinzufahren! So saßen wir, nachdem wir mit ein wenig Hektik noch die wichtigsten Dinge des Tages erledigt hatten, um punkt 13 Uhr in Øyvinds Auto Richtung Svolvær und ließen nur eine Art Notbesetzung im Krankenhaus zurück. Das Treffen sollte im Rica-Hotel stattfinden, das im Stil der Lofoten-Rorbuer (das sind diese farbigen Holz-Fischerhütten, die auf Stelzen am/im Wasser stehen) gebaut war und vom Land aus sehr schief und urig aussah. Es lag traumhaft auf einer kleinen Schäre direkt gegenüber der Innenstadt und des Hurtigruten-Kais und auf der Wasserseite verjüngte es sich zu einer modernen komplett verglasten Schiffsbug-Form, in der wir sitzen durften und von der aus wir einen fantastischen Ausblick über den Hafen, Svolvær, die Berge und den gesamten Vestfjord hatten!


Nun begann es: Ein bärtiger älterer Mann mit roter Nase und Hörgerät, der sehr nach chronischem Alkoholiker aussah, hielt einen Vortrag über seine Entzugsklinik östlich der Lofoten. Leider hatte er einen ganz entsetzlichen Lispelfehler. Ich versuchte krampfhaft, meine Mundwinkel unten zu halten. 

- "ruSSZmiddelmiSSZbruk" -     (=Rauschmittelmissbrauch) 

Bloß nicht hier anfangen zu lachen. Scheiße, ich saß auch noch direkt neben meiner Chefärztin! 

- "benSSZodiaSSZepin" -

Gerade so konnte ich das akut ausbrechen wollende Lachen in ein beide Wangen aufblasendes Grunzen umleiten. Mist, war das peinlich! Kennt ihr das? Gerade in solchen Situationen, wichtige Besprechung mit allen Ärzten der gesamten Lofoten (ca. 25-30 Stück), die Chefärztin sitzt direkt neben einem, bahnt sich ein Lachkrampf an. Wie damals als Kind beim Gottesdienst, als alles still war und der Pfarrer uns mit todernster Miene verkaufen wollte, dass er jetzt Fleisch aus diesem Knäckebrot zaubern wolle und wir das dann essen dürften. Haha. Mit gerunzelter Stirn ging er herum und sagte bedeutungsvoll "Der Leib Christi.", als er jedem Kind einen Krumen dieses albernen Wasa Crisp in die Hand drückte. Er sagte das so ernst, dass man fast denken mochte, dass er diesen Quatsch selbst glaubte. Ich konnte nicht mehr und fing an, loszuprusten und die neben mir stehende Inken gleich mit. Ich habe mich nicht mehr eingekriegt! Diese Lachkrämpfe werden dann auch noch dadurch aufrechterhalten und verstärkt, dass einem in dieser Situation andere lustige Dinge aus der Vergangenheit einfallen und sich die abstrusesten Assoziationen im Gehirn breit machen. So musste ich mir den Pfarrer damals als Verkäufer bei McDonalds vorstellen: "Wie hätten Sie Ihren Leib Christi gern? Heute paniert als ChristiMcNuggets oder lieber einen Jes-Burger? Gern.
Mit Ketchup? Wenn Sie das Happy-Crucy-Menü bestellen, ist ein 0,3er Blut Christi gratis mit drin. Sechs neunundneunzig. Danke. Guten Appetit!"
Im gesunden menschlichen Körper gibt es nur drei Beispiele von positiver Rückkopplung, also dass ein Zustand sich selbst verstärkt, alles andere funktioniert mit negativer Rückkopplung. Der Lachkrampf ist wohl der vierte, in der Physiologie einfach noch nicht beschriebene Zustand, der einer positiven Rückkopplung unterliegt.

- "et glaSSZ vin og en flaSSZke SSZnapSSZ" -

HAHAHAHAHAA! Zum Glück gelang es mir irgendwie noch, ein lautes Lachen abzuwenden und dem Vortrag brav bis zum Ende zu folgen. Die Abhängigen haben es echt gut dort, sie dürfen auf dem Fjord segeln und es gibt eine Autosportgruppe! Letztere erfreue sich wohl besonderer Beliebtheit und sie hätten dafür extra ein paar alte Autos dafür gekauft, berichtete der Klinikchef. Ich hege ja den Verdacht, dass er das ganze als Selbsttherapie gegründet hat...

Die restlichen Vorträge waren dann nicht mehr so unterhaltsam, aber manche dafür recht interessant, wenn auch nur von lokaler Bedeutung. Bespielsweise, ob Frauen in Zukunft in Stokmarknes auf den Vesterålen gebären sollen, wo es eine komplette Geburtsabteilung gibt. Man einigte sich darauf, dass sie weiterhin im Lofotenkrankenhaus gebären dürfen. In Notfällen und bei schlechtem Wetter könnte man schließlich auch hier Kaiserschnitte ("keisersnitt") durchführen, hieß es. "Klar", dachte ich mir, "bei gutem Wetter wollen die Operateure schließlich lieber Ski laufen oder angeln gehen." Das mit dem Wetter hatte dann aber doch nur die Bewandtnis, dass das Ambulansefly bei schlechtem Wetter nicht fliegen kann und normalerweise werden Frauen damit ins nächste größere Krankenhaus nach Bodø auf dem Festland geflogen, um sich dort Kaiser schneiden zu lassen (oder schreibt man das trotz Rechtschreibreform klein und zusammen?). Ein schöner Ausflug auf Kasse!

Während ich mir Mühe gab, den Vorträgen, die bis abends um 8 gingen, aufmerksam zu folgen, nahm die Chefärztin Inga neben mir die Sache nicht so ernst und suchte nach Ablenkung. "Guck mal, eine Möwe!", stupste sie mich an und zeigte aus dem Fenster. Wirklich, eine Möwe. Sogar eine recht große Möwe, die auf dem Fensterbrett saß. Man muss allerdings hinzufügen, dass die Aussage "Guck mal, eine Möwe!" hier ungefähr den gleichen Sensationswert hat wie die Aussage "Guck mal, ein Auto!" in Berlin. Die Möwe blickte kurz auf die PowerPoint-Präsentation und entschloss sich dann kurzerhand, weiterzufliegen.
Aber wir hielten brav durch und um 20 Uhr gab's dann endlich das versprochene "Middag", wahrend das große Hurtigruten-Schiff auf dem in der Sonne glitzernden Wasser ablegte, die Möwen kreischten und das tiefe sonore Horn von den Bergen widerhallte. Urlaub müsste man hier haben!


Das war zwar nicht im Hotel, sondern bei mir zu Hause, aber es sah so lecker aus, dass ich es fotografieren musste...

Dienstag, 1. Mai 2012

Alltag auf 68° Nord

"Im Dienst vergesse ich immer zu essen", stellte die etwas beleibtere Turnusärztin Nina neulich fest, als sie am frühen Nachmittag plötzlich vom Hunger überwältigt wurde. Ihr Kollege Magnus drehte sich kurz mit seinem Schreibtischstuhl um: "Und ich denke an nichts anderes! Und ans Skilaufen natürlich." Eine Aussage, die ich gewiss unterschreiben konnte. 3 Turnusärzte arbeiten hier tagsüber, einer für Station A, einer für Station B und einer hat Tagdienst, nimmt also neue Patienten auf. Nachts und am Wochenende ist es dann nur einer für das gesamte Krankenhaus, das neben den genannten Stationen noch über eine 4-bettige hier sogenannte "Intensivstation" und eine chirurgische Station verfügt. Frauenheilkunde und Psychiatrie sind extra besetzt, klar, die komplizierteren Patienten brauchen spezialisierteres Personal.
Das Büro der Turnusärzte liegt im 2. Stock, also ganz oben im Krankenhaus, mit Fenster nach Süden und damit Blick auf den noch schneebedeckten Nordhang des Hügels Sundsheia direkt hinter dem Krankenhaus. Der Hügel ist zwar nur 285m hoch, aber die felsige Steilheit des Nordhangs und die meterhohe Wechte am "Gipfel"kamm lassen ihn gleich alpiner wirken, zumindest jetzt im Winter. Oder offiziell Frühling, aber daran war zumindest die letzten 3 Tage nicht zu denken, als bei 2-3°C Schnee- und Regenstürme über die Inselkette fegten, gegen die ich mit meinem Fahrrad im 1. Gang kaum ankam. Kam der Wind von der Seite, musste ich mich so stark dagegen lehnen, dass ich die Befürchtung hatte, dass die Reifen auf der nassen Fahrbahn jeden Moment seitlich wegrutschten. Einen solchen Sturm habe ich noch nie auf dem Rad erlebt! Und immerhin war ich auch an dem Tag in Berlin auf dem Rad unterwegs, als der Wind einen Teil des Hauptbahnhofs in Schutt und Asche legte. Einen sehr kleinen Teil zwar, aber immerhin. Das passierte hier zwar nicht, was aber auch kein Wunder ist, da es hier keinen Hauptbahnhof gibt. Überhaupt gibt es keinen Bahnhof auf den Lofoten, nicht mal einen kleinen wie in Oestrich-Winkel. Teilweise gibt es nicht einmal Bushaltestellen. Man muss wissen, wo der Bus entlangfährt und wann ungefähr und dann stellt man sich an eine geeignete Stelle an die Straße und signalisiert dem Bus, dass man gerne mitfahren möchte. Im Prinzip klappt das gut, aber es ist ein Albtraum, wenn man nicht weiß, wo genau die Linie langfährt (so genau steht das auch nicht im Fahrplan).

Aber jetzt habe ich ja ein Fahrrad! Wie immer testete ich bei der Übergabe Reifendruck, Bremsen und Licht und wurde durch letzteres von Willy, dem neben mir stehenden Mitarbeiter der Technischen Abteilung des Krankenhauses, als Lofoten-Anfänger überführt: Hier wird's doch nie dunkel, zumindest nicht vor August! Die einzigen Orte, an denen es hier im Moment dunkel ist, sind zum einen der Nappstraumen-Tunnel, der meine Insel Vestvågøy mit der benachbarten Insel Flakstadøy verbindet und dabei bis auf knapp 100m unter den Meeresspiegel abfällt (und zum Leidwesen der Radfahrer auf der anderen Seite auch wieder genau so weit ansteigt) und der Røntgendemonstrasjonsrom im Krankenhaus, in dem uns jeden Montag, Mittwoch und Freitag Morgen die Röntgenbilder der aktuellen Patienten vorgeführt werden. Die Kombination aus Uhrzeit, Dunkelheit und Thematik stellt hierbei stets ein anspruchsvolles Training für meine Augenlider dar. Aber Jon, der alte weißhaarige Radiologe, den ich für sein Osloer Bokmål-"Hochnorwegisch", wie es im Buch steht, jedes Mal umarmen könnte (die Lofoten-Ureinwohner haben einen katastrophalen Dialekt und scheuen sich nicht, diesen gegen mich einzusetzen), lockert die Bildpräsentation stets gekonnt auf. Ob er auf dem gezeigten Bauch-Röntgenbild eines korpulenteren Patienten Zeichen für einen Darmverschluss erkennen könne? Nein, das könne er nicht. Aber er könne erkennen, dass der Patient zu allen Mahlzeiten zu Hause gewesen sei. Zum Computertomogramm des Gehirns einer Patientin erklärte er, dass er dort nichts Krankhaftes erkennen könne, lediglich altersentsprechende Veränderungen. Worauf er kurz innehielt, sich zu uns umdrehte und etwas entsetzt feststellte, dass er ja 10 Jahre älter als die Patientin sei.

"alt" heißt auf Norwegisch übrigens "gammel" (außer im Chor, da heißt es "alt"), eine "gammel dame" ist hier keinesfalls eine Beleidigung, während man sich in der Konditorei durchaus beschweren darf, wenn man "gammel kake" angedreht bekommt. Hier eine kleine Sammlung Norwegischer Wörter:

bløtkake (wörtlich: "Weichkuchen", in seine Untersuchungsberichte muss man hier auch immer "abdomen bløt" schreiben) = Sahnetorte
Mini Fras = eine Sorte Getreidekissen als Müsli (schmeckt nicht viel besser als es klingt)
øl = Bier
slaps (sprich: "Schlaps") = Schneematsch
mellomgulv (wörtlich: "Zwischenboden") = Zwerchfell
prosit! = Gesundheit! (wenn jemand niest)
bukse med strikk = Hose mit Kordel
avføringsprøve (wörtlich: "Abführungsprobe") = Stuhlprobe
brannslange (sprich: "Brannschlange") = Wasserschlauch zum Feuerlöschen

Generell ist eine "Slange" hier ein Schlauch, so bekommen die Patienten vor der Koloskopie erklärt, dass ihnen "eine Slange in den Enddarm gesetzt wird", bei der Magenspiegelung hingegen müssen sie die "Slange schlucken". Ein wenig eklig die Vorstellung...

Abgesehen davon sind viele Wörter gleich oder ähnlich wie im Deutschen, werden aber etwas zweckmäßiger geschrieben, "anestesi" oder "grateng" zum Beispiel. Oder auch:

sjåfør (sprich: "Schofför") = Fahrer
nøytrofile (= Neutrophile, eine besonders kampfeslustige Sorte weißer Blutkörperchen)
fysioterapi
keisersnitt
platå = Plateau

"Wie bitte?" wird hier sehr pragmatisch mit "Hæ?" übersetzt. Etwas anständiger als die Schweden sind die Norweger aber dennoch, "Taschenlampe" heißt hier ganz unspektakulär "lommelys", auf Schwedisch hingegen "ficklampa".

Da es im Krankenhaus oft schlecht ankommt, wenn man seinen Fotoapparat zur Visite mitnimmt und fröhlich drauflos knipst, gibt's stattdessen mal wieder ein paar Bilder der Umgebung, in der Hoffnung, dass es nicht langweilig wird:

im Hintergrund die Halbinsel, auf der mein Wohn- und Arbeitsort Gravdal liegt

Flakstadøy und der offene Atlantik

auf der Südseite meiner Halbinsel, hier liegt kaum noch Schnee

Richtung Vestfjord

der Nappstraumen, im Vordergrund die Box mit dem Gipfelbuch