Dienstag, 1. Mai 2012

Alltag auf 68° Nord

"Im Dienst vergesse ich immer zu essen", stellte die etwas beleibtere Turnusärztin Nina neulich fest, als sie am frühen Nachmittag plötzlich vom Hunger überwältigt wurde. Ihr Kollege Magnus drehte sich kurz mit seinem Schreibtischstuhl um: "Und ich denke an nichts anderes! Und ans Skilaufen natürlich." Eine Aussage, die ich gewiss unterschreiben konnte. 3 Turnusärzte arbeiten hier tagsüber, einer für Station A, einer für Station B und einer hat Tagdienst, nimmt also neue Patienten auf. Nachts und am Wochenende ist es dann nur einer für das gesamte Krankenhaus, das neben den genannten Stationen noch über eine 4-bettige hier sogenannte "Intensivstation" und eine chirurgische Station verfügt. Frauenheilkunde und Psychiatrie sind extra besetzt, klar, die komplizierteren Patienten brauchen spezialisierteres Personal.
Das Büro der Turnusärzte liegt im 2. Stock, also ganz oben im Krankenhaus, mit Fenster nach Süden und damit Blick auf den noch schneebedeckten Nordhang des Hügels Sundsheia direkt hinter dem Krankenhaus. Der Hügel ist zwar nur 285m hoch, aber die felsige Steilheit des Nordhangs und die meterhohe Wechte am "Gipfel"kamm lassen ihn gleich alpiner wirken, zumindest jetzt im Winter. Oder offiziell Frühling, aber daran war zumindest die letzten 3 Tage nicht zu denken, als bei 2-3°C Schnee- und Regenstürme über die Inselkette fegten, gegen die ich mit meinem Fahrrad im 1. Gang kaum ankam. Kam der Wind von der Seite, musste ich mich so stark dagegen lehnen, dass ich die Befürchtung hatte, dass die Reifen auf der nassen Fahrbahn jeden Moment seitlich wegrutschten. Einen solchen Sturm habe ich noch nie auf dem Rad erlebt! Und immerhin war ich auch an dem Tag in Berlin auf dem Rad unterwegs, als der Wind einen Teil des Hauptbahnhofs in Schutt und Asche legte. Einen sehr kleinen Teil zwar, aber immerhin. Das passierte hier zwar nicht, was aber auch kein Wunder ist, da es hier keinen Hauptbahnhof gibt. Überhaupt gibt es keinen Bahnhof auf den Lofoten, nicht mal einen kleinen wie in Oestrich-Winkel. Teilweise gibt es nicht einmal Bushaltestellen. Man muss wissen, wo der Bus entlangfährt und wann ungefähr und dann stellt man sich an eine geeignete Stelle an die Straße und signalisiert dem Bus, dass man gerne mitfahren möchte. Im Prinzip klappt das gut, aber es ist ein Albtraum, wenn man nicht weiß, wo genau die Linie langfährt (so genau steht das auch nicht im Fahrplan).

Aber jetzt habe ich ja ein Fahrrad! Wie immer testete ich bei der Übergabe Reifendruck, Bremsen und Licht und wurde durch letzteres von Willy, dem neben mir stehenden Mitarbeiter der Technischen Abteilung des Krankenhauses, als Lofoten-Anfänger überführt: Hier wird's doch nie dunkel, zumindest nicht vor August! Die einzigen Orte, an denen es hier im Moment dunkel ist, sind zum einen der Nappstraumen-Tunnel, der meine Insel Vestvågøy mit der benachbarten Insel Flakstadøy verbindet und dabei bis auf knapp 100m unter den Meeresspiegel abfällt (und zum Leidwesen der Radfahrer auf der anderen Seite auch wieder genau so weit ansteigt) und der Røntgendemonstrasjonsrom im Krankenhaus, in dem uns jeden Montag, Mittwoch und Freitag Morgen die Röntgenbilder der aktuellen Patienten vorgeführt werden. Die Kombination aus Uhrzeit, Dunkelheit und Thematik stellt hierbei stets ein anspruchsvolles Training für meine Augenlider dar. Aber Jon, der alte weißhaarige Radiologe, den ich für sein Osloer Bokmål-"Hochnorwegisch", wie es im Buch steht, jedes Mal umarmen könnte (die Lofoten-Ureinwohner haben einen katastrophalen Dialekt und scheuen sich nicht, diesen gegen mich einzusetzen), lockert die Bildpräsentation stets gekonnt auf. Ob er auf dem gezeigten Bauch-Röntgenbild eines korpulenteren Patienten Zeichen für einen Darmverschluss erkennen könne? Nein, das könne er nicht. Aber er könne erkennen, dass der Patient zu allen Mahlzeiten zu Hause gewesen sei. Zum Computertomogramm des Gehirns einer Patientin erklärte er, dass er dort nichts Krankhaftes erkennen könne, lediglich altersentsprechende Veränderungen. Worauf er kurz innehielt, sich zu uns umdrehte und etwas entsetzt feststellte, dass er ja 10 Jahre älter als die Patientin sei.

"alt" heißt auf Norwegisch übrigens "gammel" (außer im Chor, da heißt es "alt"), eine "gammel dame" ist hier keinesfalls eine Beleidigung, während man sich in der Konditorei durchaus beschweren darf, wenn man "gammel kake" angedreht bekommt. Hier eine kleine Sammlung Norwegischer Wörter:

bløtkake (wörtlich: "Weichkuchen", in seine Untersuchungsberichte muss man hier auch immer "abdomen bløt" schreiben) = Sahnetorte
Mini Fras = eine Sorte Getreidekissen als Müsli (schmeckt nicht viel besser als es klingt)
øl = Bier
slaps (sprich: "Schlaps") = Schneematsch
mellomgulv (wörtlich: "Zwischenboden") = Zwerchfell
prosit! = Gesundheit! (wenn jemand niest)
bukse med strikk = Hose mit Kordel
avføringsprøve (wörtlich: "Abführungsprobe") = Stuhlprobe
brannslange (sprich: "Brannschlange") = Wasserschlauch zum Feuerlöschen

Generell ist eine "Slange" hier ein Schlauch, so bekommen die Patienten vor der Koloskopie erklärt, dass ihnen "eine Slange in den Enddarm gesetzt wird", bei der Magenspiegelung hingegen müssen sie die "Slange schlucken". Ein wenig eklig die Vorstellung...

Abgesehen davon sind viele Wörter gleich oder ähnlich wie im Deutschen, werden aber etwas zweckmäßiger geschrieben, "anestesi" oder "grateng" zum Beispiel. Oder auch:

sjåfør (sprich: "Schofför") = Fahrer
nøytrofile (= Neutrophile, eine besonders kampfeslustige Sorte weißer Blutkörperchen)
fysioterapi
keisersnitt
platå = Plateau

"Wie bitte?" wird hier sehr pragmatisch mit "Hæ?" übersetzt. Etwas anständiger als die Schweden sind die Norweger aber dennoch, "Taschenlampe" heißt hier ganz unspektakulär "lommelys", auf Schwedisch hingegen "ficklampa".

Da es im Krankenhaus oft schlecht ankommt, wenn man seinen Fotoapparat zur Visite mitnimmt und fröhlich drauflos knipst, gibt's stattdessen mal wieder ein paar Bilder der Umgebung, in der Hoffnung, dass es nicht langweilig wird:

im Hintergrund die Halbinsel, auf der mein Wohn- und Arbeitsort Gravdal liegt

Flakstadøy und der offene Atlantik

auf der Südseite meiner Halbinsel, hier liegt kaum noch Schnee

Richtung Vestfjord

der Nappstraumen, im Vordergrund die Box mit dem Gipfelbuch




Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen