Freitag, 27. Juli 2012

Angriff der Bauchplatscher

Noch etwas müde von der kurzen Nacht lag mein Kinn auf den auf dem breiten Fensterbrett verschränkten Unterarmen, die von der darunter liegenden Heizung behaglich angewärmt wurden, sodass ich gemütlich aus dem Fenster gucken konnte. Mit leisem monotonem Brummen und ohne spürbare Bewegungen glitt das Hurtigbåt an diesem Samstagmorgen mit immerhin knapp 60km/h durch die Sunde und Fjorde der Provinz Troms, von Harstad auf den Vesterålen ins in einem Anflug von Größenwahn selbsternannte "Paris des Nordens", die gemütliche und wundervoll auf einer länglichen Insel gelegene Universitätsstadt Tromsø. "Hurtigbåt" werden hier Schnellkatamarane genannt, die praktisch in ganz Norwegen örtliche und regionale Linien vor der Küste bedienen und dabei ein viel schnelleres und komfortableres Verkehrsmittel darstellen als Busse und Autos, die sich über die endlosen kurvigen Straßen langsam zu ihrem Ziel vorarbeiten müssen. Die schon hoch stehende Morgensonne glitzerte im spiegelglatten Wasser, während das noch nicht aus dem Schlaf erwachte Ufer mit einzeln verstreuten roten Holzhäuschen und dahinter liegenden schneebedeckten Bergen meditativ vorbeiglitt. In meinem Kopf lief Griegs Morgenstimmung. Die Aussicht war zu schön als dass ich mich in dem fast leeren Boot auf meiner Dreierreihe Flugzeugsitze noch mal schlafen legen wollte! Lange hielt dieser Vorsatz aber nicht an und überrascht wachte ich kurz vor Tromsø wieder auf. Auf den Bildschirmen im Boot liefen neben Sicherheitshinweisen, Wetter und Werbung auch der Status der in Tromsø ankommenden und abgehenden Flüge. Die beiden würden pünktlich landen!


Inken und Charlotte alias Toni, ihretwegen war ich nach Tromsø gefahren, sollten mehr Glück mit dem Wetter haben als Kerstin in der Woche zuvor. Es war Anfang Juni und ohne eine Wolke am Himmel schien die Sonne 24h am Tag. Mit knapp über 10°C war es zwar nicht übermäßig warm, aber in der Sonne reichte ein T-Shirt, als wir einen Spaziergang in Richtung Tromsøs Hausberg Storsteinen machten. Abends froren wir allerdings wieder ganz schön, als wir gegen Mitternacht am Kai saßen und auf den von der Mitternachtssonne in einem warmen Orange angeleuchteten schneebedeckten Tromsdalstinden guckten, während wir auf die Ankunft unseres Schiffes warteten. Ein paar Deutsche Stimmen waren schon zu hören und verrieten: Das nächste Hurtigrutenschiff kann nicht weit sein! Und tatsächlich, gegen 00:15 Uhr schob sich mit einem tiefen sonoren Ton aus dem Horn die MS Richard With unter der hohen Straßenbrücke, die Tromsø mit dem Festland verbindet, hindurch. Der Schiffsname bescherte uns ein wenig Spaß, so wurde das auf meiner Bordkarte stehende
MS Richard With
Torsten Henze
von den beiden just als englische Phrase "Miss Richard with Torsten Henze" gelesen. Tatsächlich war Englisch jedoch nicht die Verkehrssprache Nummer 1 an Bord: Geschätzte 60% der Fahrgäste waren Deutsche, etwa 30% Norweger und weitere 30% Englisch- und anderssprachig. Und das merkte man auch. Nicht selten hörte man "Wolfgang, winke mal!", wenn ein Foto gemacht werden sollte oder "Diese Stufe hier, also nein! Was da alles passieren kann. Wer jetzt nicht mehr so gut zu Fuß ist wie wir..." Gut zu Fuß waren allerdings die wenigsten, denn das Durchschnittsalter an Bord dürfte nicht deutlich unter 70 gelegen haben. Nicht nötig zu erwähnen, dass diejenigen 70-Jährigen, die noch sehr gut zu Fuß sind, in der Regel nicht freiwillig diese 11-tägige Schiffsreise machten. Das Deutsche an Bord war nicht zu übersehen: Ältere Damen mit herabhängenden Mundwinkeln, die sich extra für diese Reise eine Jack Wolfskin-Jacke gekauft hatten, wurden missmutig von ihren Ehemännern an Deck geschleift, wo sie gekonnt leidend den quälend kalten Fahrtwind ertragen mussten, während ihre selbstherrlichen Männer ihnen übereifrig frei erfundenes Wissen über Navigation und Schiffstechnik zu erklären versuchten. Liegestühle, die mit Decken reserviert wurde inklusive Blitzkriegen, wenn diese Geste von anderen Nationalitäten an Bord nicht erkannt wurde. "Also diese Engländer, wirklich kein Benehmen! Und nicht mal richtig Deutsch können die. Hans, hast du überhaupt gesehen, wie diese Frau angezogen war? Hans?"



Nichtsdestotrotz, eine Fahrt mit der Hurtigrute ist einfach schön! Entgegen des Namens ist es die Wiederentdeckung der Langsamkeit und unheimlich entspannend inmitten der Hektik von Alltag oder Urlaub. Man verpasst nichts, wenn man mal eine Viertelstunde lang döst, auf dem Topf sitzt oder sich auf Plakaten die Fische des Eismeers auf Norwegisch, Englisch, Deutsch und Latein ansieht. 11 Tage lang, so lange dauert die Fahrt von Bergen am Nordkapp vorbei nach Kirkenes kurz vor der russischen Grenze und zurück, könnte ich das trotzdem nicht aushalten. Nicht ohne Thromboseprophylaxe. Nun, es gibt ein Fitnessstudio und bei den Landgängen könnte man auch immer mal eine Stunde joggen oder zu Fuß gehen. Oder kann sich kurz mit 550 anderen Fahrgästen das Polarmuseum oder den Nidarosdom ansehen und ehe man sich versieht, ist man schon wieder auf dem Wasser. Man sieht zwar viel, kommt aber nirgendwo wirklich an. Man ist nicht in Norwegen, man fährt dran vorbei und wird nie den Geruch des Blaubärkrauts, die Stille und Einsamkeit im Fjell in sich aufnehmen, untermalt vom Rauschen von Wasserfällen und dem Blöken der Schafe. Das ist Norwegen!
Doch neben dem touristischen Aspekt ist die Hurtigrute auch immer noch ein Transportmittel. Nach wie vor wird Fracht für Nordnorwegen mit der Hurtigrute befördert, Autos und natürlich auch Menschen, die von A nach B wollen wie wir. Und es nicht zu vergessen, dass sie zumindest für Studenten wie Desiree, Inken und mich der billigste Weg von Tromsø auf die Lofoten ist, abgesehen von einer 11-stündigen Überlandbusfahrt, denn man kann die Fahrt ohne Kajüte buchen und zahlt dann in unserem Fall nur 48€ für die 20-stündige Fahrt. Und wenn die älteren Mitreisenden bis auf 1-2 Leseratten abends in ihren Kajüten verschwinden, kann man es sich mit seinem Schlafsack auf den gepolsterten Bänken der Salons bequem machen. Das ferne Brummen der Motoren ist fast nicht zu hören und die Teppichböden und gepolsterte Einrichtung schlucken sämtlichen Stall. Wir schliefen wie im Mutterleib! Kurz hinter Harstad wachten wir auf, duschten, frühstückten, lasen und genossen die Aussicht an Deck. Ein Grund dafür, dass wir die Hurtigrute genommen hatten, war auch die Fahrt durch den engen Trollfjord auf den Westlofoten. Doch davor hatten wir 1 Stunde Aufenthalt in Stokmarknes, wo wir gratis einen Blick auf viele Fotos und Ausstellungsstücke im Hurtigrutenmuseum werfen durften, welche laut Schild nur die Vorboten für diesen Trip waren:


Die Fahrt durch den Trollfjord ist mit zwei Unannehmlichkeiten behaftet: zum einen wird es an Deck selbst mit Windjacke und Mütze irgendwann fies kalt, zum anderen gehen ALLE der 550 Mitreisenden für die spektakuläre Durchfahrt an Deck und verklumpen dort. Also ließen wir den Deckel des Whirlpools entfernen! Das darf man nämlich nicht selbst, wohl aber darf man den Whirlpool duschen, sofern man davor selbst duscht:

Im Whirlpool war es so warm wie im Popo mit Fieber und die meisten Leute hielten einen sicheren Abstand zum Medium Wasser ein und versperrten somit die Aussicht nicht. Die meisten, denn eine ältere Dame hatte sich ihren Stuhl mit einer Handbreit Abstand zum bereits ohne Insassen fast randvoll gefüllten Boblebad, wie es der Norweger nennt, gestellt und wartete auf das, was ihr gebührte. Chantalle und Inken waren schon im Wasser und ich war auf der obersten Stufe und schnell unterwegs mit kindlicher Vorfreude auf das blubbernde Bad! Etwas zu schnell wohl, denn mein Körperschwerpunkt überholte den Fuß, dieser rutschte weg und der gesamte Torsten fiel bäuchlings und unter Erzeugung eines Modell-Tsunamis in den Pool. Laut Augenzeugenberichten zumindest, denn ich selbst war ja unter Wasser und bekam von dem ganzen Spaß nichts mit. Überhaupt schöpfte ich den Verdacht, dass irgendetwas schief gelaufen war erst, als ich auftauchte, in die ernsten Gesichter von Toni und Inken blickte und im Hintergrund das laute Gezeter der offenbar thüringischen alten Dame losging. "Ich betrachte das als Rücksichtslosigkeit!", wetterte sie. Natürlich war mir das unheimlich peinlich und unangenehm und ich entschuldigte mich vielmals. Zugegeben, die Tatsache, dass ich kurz vor meinem Ausrutscher noch enthusiastisch "Köpper!" gerufen hatte, stärkte nicht unbedingt die Glaubwürdigkeit meiner Entschuldigung. Und genau so schien es die Dame auch zu sehen, ich sei ein wirklich böser Jugendlicher, sagte sie und sie würde eine Bechwerde einreichen (bei wem eigentlich?). Ich stand auf, um über den Rand des Pools überhaupt erstmal die Ausdehnung meines Werks bestaunen zu können. Es war wirklich alles voll! Zumindest die Hose war voll, oh nee! Und in ihrem Alter konnte ich nicht mal argumentieren, dass sie ja noch wachsen müsse und gießen deshalb wichtig sei. Stattdessen bot ich ihr mein Handtuch an, doch selbst das sah sie in ihrer Verbittertheit als Frechheit an. So zog sie von dannen, zeigte unterwegs noch 2 anderen Leuten unter Schimpfen und Fluchen ihre volle Hose und holte sich eine andere. Und schon kam der Trollfjord! 






Und was Charlotte, Inken und ich in unser restlichen gemeinsamen Zeit auf den Lofoten so alles gesehen haben, seht ihr hier, Bilder sagen mehr als tausend Worte...

Blick von meinem Wohnort Gravdal auf das Himmeltind-Massiv

von Å Richtung Mosken und Værøy



Nordkappradtour-Revival-Foto mit anderer Besetzung...

Spaziergang von Unstad nach Eggum, schönster Sommertag des ganzen Jahres bis jetzt!

Die Tierärztin immer im Dienst zum Schafe umdrehen.

Nachts auf dem Offersøykammen

"Die Wand" auf der Strecke Richtung Nusfjord

Nusfjord
auf dem Reinebringen auf Moskenesøy

Fußweg nach Kvalvika

Zelten in Kvalvika, der "Walbucht"

Die abgelegene Bucht Kvalvika von oben. Wie in der Südsee!
Mitternachtssonne, weiter sinkt sie nicht

auf dem kleinen, aber feinen Berg Hov auf Gimsøya

Mitternacht auf Værøy

Samstag, 30. Juni 2012

Alles kalt macht der Mai

Lange ist's her, dass ich das letzte Mal etwas geschrieben habe! Und das, obwohl ich hier so viel erlebt habe. Oder gerade, weil ich hier so viel erlebt habe? Hier ein Bericht über die letzten Tage im Mai.

"Das ist der kälteste Mai, den ich hier je erlebt habe", sagte der nette alte Besitzer des Campingplatzes auf Røst, der abgelegensten bewohnten Insel der Lofoten, "und ich wohne seit 33 Jahren hier". In Tromsø ein Stückchen nördlich von hier waren in diesen Tagen 8cm Neuschnee gefallen. Wir waren zwar nördlich des Polarkreises, aber der eiskalte Starkwind, der meiner Besucherin Kerstin und mir mehrmals täglich Regen- und Schneeschauer gefühlsmäßig durch Haut und Unterhautfettgewebe hindurch direkt auf die Knochen peitschte, war wohl selbst hier oben jenseits des Normalen. Außerdem gab es noch eine weitere Art Niederschlag, dessen Namen ich nicht kannte, der aber im Gesicht piekte und bei dem mir als werbungsverseuchtem Menschen sofort die Assoziation  "Megaperls" kam. Das Zeug machte meine königsblaue Fleecejacke auch wirklich innerhalb von Minuten weiß. "Und ihr wollt wirklich zelten?" Für  ausnahmsweise nur 100€ würde er uns eine Campinghütte anbieten. "Wir  wollen die Hütte doch nicht kaufen!", dachte ich. Und der Zeitraum wäre ohnehin nicht lang, schließlich war es schon 23:30 Uhr und um halb sieben würden wir wieder aufstehen müssen, um unser Propellerflugzeug nach Leknes zu kriegen. Nur ein Blick auf die Uhr verriet, dass es schon so spät war. Im Gegensatz zu den anderen Inseln der Lofoten ist Røst eine Ansammlung von  Schären und flach wie ein Eierkuchen, keine Berge, die die Sonne verdeckten. Und so schien sie, wenn keine Wolken im Weg waren, rund um die Uhr. Die Nacht davor hatten wir auf Røsts Nachbarinsel Værøy wild gezeltet, in einem abgelegenen Teil der Insel, wo es bis auf Kräuter, Berge und Meer nicht viel gab. Zu hören waren nur ein paar Möwen und das Sausen des Windes, der unentwegt an den Leinen meines Hubba Hubba riss. So heißt mein Zelt, im Gegensatz zur Einmannversion, die nur "Hubba" heißt. Aber laut Testbericht hätte das Zelt in Florida 80km/h schnellen Gewitterstürmen mit Regen standgehalten, auch wenn sich das Gestänge dabei bis fast auf den Boden  durchgebogen habe. Das verlieh uns genug Optimismus, um das Zelt alleine zurückzulassen und uns dem höchsten "Berg" der Insel zu widmen, der zwar bequem zu erwandern und nicht mal 500m hoch war, auf der Nordseite aber als Steilwand bis zum offenen Atlantik abfiel, was die Aussicht famos machte! Allerdings bekamen wir dort oben auch zu spüren, wie sich der Wind ohne den Windschatten des Berges anfühlte und die donnernden Wellen unter uns sprachen auch ihren Teil. Das hatten wir zu unserem Leidwesen auch schon auf den Fährfahrten von der Hauptlofotenkette nach Værøy und später von Værøy nach Røst erleben dürfen. Teilweise fiel der Bug der sehr großen Fähre von einer Welle angehoben so tief ins Wellental hinab, dass er in die nächste Welle eintauchte und das schäumende Wasser und die Gicht (wie der Mediziner sagt) bis an die Fenster des sicherlich knapp 10m oberhalb der Wasseroberfläche gelegenen Salons schaufelte. Ein tolles Schauspiel! Fand mein Magen nur leider nicht. Und die Mägen der meisten anderen auch nicht. Es war schon beim unserem Zusteigen in Moskenes verdächtig gewesen, dass fast alle der die knapp 4h Überfahrt vom Festland schon hinter sich habenden Reisenden auf halb acht auf den Bänken hingen und es Totenstille herrschte. Bis auf einen hinter uns sitzenden verhaltensauffälligen Südländer, der die gesamte Fahrt über stereotyp eine bestimmte kurze Wortfolge agitiert flüsternd wiederholte. Betete er etwa?

Norwegisch-Lektion des Tages:
"magen" = der Bauch
"magesekk" ("Magensack") = der eigentliche Magen
"kvalm" = übel
"kaste opp" (wörtlich: "aufwerfen") = sich übergeben
Achtung, Falle: "brekke seg" (wörtlich "sich brechen") heißt nur "würgen"
"reisesykepose" ("Reisekrankheitstüte") = Übergabebeutel
"det blåser" ("es bläst") = es ist windig
"det kommer luft" ("es kommt Luft") ist hingegen nur im gastroenterologischen, nicht aber im meteorologischen Sinne zu gebrauchen

Auf Værøy. Windstärke 7. Hubba Hubba steht.

Aussicht vom höchsten Berg Værøys

Schauer fegen über die Insel.

Zwischen den beiden benachtbarten Inseln Værøy und Røst herrschte eine Rivalität, wie uns der "Campingplatz-Opi", wie wir ihn liebevoll nannten  erzählte, als er uns am nächsten Morgen netterweise mit seinem VW-Bus bis zum Røster Flugplatz fuhr. "Wenn die Möwen sich Værøy nähern, drehen sie sich im Flug auf den Rücken und fliegen verkehrtherum weiter, damit sie diese hässliche Insel nicht sehen müssen", erzählte er uns lachend. Uns gefielen trotzdem beide Inseln sehr gut, die flachen Fischerschären von Røst und die bergige Insel Værøy mit ihren Sandstränden und dem Katzenkopf-Felsen gleich neben dem Hafen, der von weitem allerdings mehr nach einem Bären aussah, der wie beim Banküberfall beide Tatzen über den Kopf hob. Außer Tieren aus Stein hat Værøy sogar eine eigene Hunderasse mit dem witzigen Namen "Lunde-Hunde". Diese haben früher Jagd auf die hier sogenannten Lundevögel (deutsch: "Papageientaucher") gemacht. Jetzt gibt es weniger Lundevögel, aber auch weniger Lundehunde, denn auf so einer abgelegenen Insel kann man sich schließlich nur mit Mitgliedern der eigenen Familie vermehren und das führt bekanntlich zu fiesen Erbkrankheiten, im Fall der Lundehunde zum Tourette-Syndrom. Und so fliegen die Lundevögel schon weg, sobald sie die näher kommenden Schimpfwörter hören und der arme fluchende Lundehund noch einen Kilometer entfernt ist.

45 Minuten vor dem Abflug waren wir die ersten am Flughafen, dessen Zufahrtsweg nicht einmal durchgehend asphaltiert war. "Kerstin und Torsten?", fragte die Dame am Schalter an der Seite des kleinen Abflugbereiches, der nicht viel größer als mein Zimmer im Schwesternwohnheim war. Sie druckte unsere Bordkarten aus, plauderte kurz über das Wetter und bat uns, noch ein bisschen zu warten oder einen Spaziergang zu machen, da der Mann von der Sicherheitskontrolle noch nicht da sei. In Røst landen werktags zwei Flugzeuge am Tag, eins morgens um kurz vor neun und eins abends um halb acht. Ich fragte mich, was die immerhin 3 Flughafenmitarbeiter wohl den ganzen restlichen Tag über taten? Besonders der, der mit den zwei Kellen das Flugzeug zu seiner Parkposition winkte, erschien irgendwie entbehrlich, schließlich gab es sowieso nur eine Parkposition und die war quer vor dem Gebäude. Vielleicht machten die das als Nebenjob oder ehrenamtlich? "Guten Tag, ich heiße Morten, bin Grundschullehrer und in den Sommerferien arbeite ich als Flugzeugeinwinker." Wer weiß, wie die Dinge auf einer so kleinen Insel funktionieren? Die Touristeninformation ist auch nur eine Stunde pro Tag geöffnet, immer nach Ankunft der Fähre.
Doch diese Frage konnte ich mir nicht mehr beantworten lassen, denn schon traf unsere kleine Dash-8-100 ein, einige Leute stiegen aus und zwei weitere Reisende und wir stiegen ein. Mit diesen kleinen Widerøe-Flugzeugen zu fliegen ist für Nord-Norweger nichts anderes als Stadtbus zu fahren. Analog dazu hatte das Flugzeug auch Zweierreihen rechts und links des Ganges und die letzter Reihe bestand aus einer 5er-Bank, Türen gab es nur vorne. 
Das dichte Netz aus Kurzbahnflugplätzen mit mehreren täglichen Flügen ermöglicht vor allem hier in Nordnorwegen vielen noch so abgelegenen Orten eine relativ zügige Anbindung an den Rest des Landes. Viele Orte wie Leknes und Røst, Røst und Bodø oder Svolvær und Narvik sind Luftlinie zwar nur um die 100km und damit 25 Flugminuten voneinander entfernt, der Geografie wegen entspricht das aber trotzdem oft 4-5h Auto- und/oder Fährfahrt. (Man stelle sich mal bei uns Flüge Tegel-Jüterbog oder Schönefeld-Neuruppin vor.) So gibt es hier in Leknes zur Zeit die für uns Deutsche sehr absurd klingende Situation, dass die Einwohner einen Ausbau des Flughafens fordern, die Politik sich aus Kostengründen aber dagegen sträubt.


Brandung am Flughafen Røst. Im Hintergrund Værøy.

Røst - flach wie eine Anorektikerin!

Der Warteraum des Flughafens: 4 Tische mit Stühlen, 1 Süßigkeitenautomat, 1 Klo.
Landeanflug auf Leknes. Da unten wohne ich!

Freitag, 11. Mai 2012

Vårmøte lofotleger

Lasst uns diesen Begriff auseinandernehmen:

vår = Frühling, eine Jahreszeit, die sich hier oben nicht wesentlich vom mitteleuropäischen Winter unterscheidet

møte = Treffen/Besprechung

lofot = Name der Inselkette. "Lofoten" ist die bestimmte Form, die im Norwegischen den bestimmten Artikel ersetzt.
ein Lofot = "lofot"
der Lofot = "lofoten"
Ist klar, ne?
Genau so verhält es sich übrigens bei der berühmten Postschifflinie "Hurtigruten". Im Gegensatz zur für uns Deutsche naheliegenden Annahme, dass es sich um "die Hurtigruten" (Mehrzahl) handelt, ist die korrekte Übersetzung "die hurtige/schnelle Route". Der Name "Lofoten" bedeutet übrigens "der Luchsfuß", was mit etwas Fantasie an der Krallenform der Inselgruppe liegen könnte.

leger (nicht französisch auszusprechen!), Mehrzahl von "lege"  = "Arzt". In der Tat ein merkwürdiges Wort! Darauf gründet auch meine Idee, sollte ich einmal eine Gemeinschaftspraxis in Norwegen eröffnen, diese "Legebatteri" zu nennen.


Nun, es geht also um das Frühlingstreffen der Lofoten-Ärzte, an dem ich teilnehmen durfte. "Es werden viele halbwegs spannende und nicht so spannende Dinge diskutiert", erzählten mir die Turnusärzte, "und es gibt 'gratis middag'!". Wenn das kein Grund war, hinzufahren! So saßen wir, nachdem wir mit ein wenig Hektik noch die wichtigsten Dinge des Tages erledigt hatten, um punkt 13 Uhr in Øyvinds Auto Richtung Svolvær und ließen nur eine Art Notbesetzung im Krankenhaus zurück. Das Treffen sollte im Rica-Hotel stattfinden, das im Stil der Lofoten-Rorbuer (das sind diese farbigen Holz-Fischerhütten, die auf Stelzen am/im Wasser stehen) gebaut war und vom Land aus sehr schief und urig aussah. Es lag traumhaft auf einer kleinen Schäre direkt gegenüber der Innenstadt und des Hurtigruten-Kais und auf der Wasserseite verjüngte es sich zu einer modernen komplett verglasten Schiffsbug-Form, in der wir sitzen durften und von der aus wir einen fantastischen Ausblick über den Hafen, Svolvær, die Berge und den gesamten Vestfjord hatten!


Nun begann es: Ein bärtiger älterer Mann mit roter Nase und Hörgerät, der sehr nach chronischem Alkoholiker aussah, hielt einen Vortrag über seine Entzugsklinik östlich der Lofoten. Leider hatte er einen ganz entsetzlichen Lispelfehler. Ich versuchte krampfhaft, meine Mundwinkel unten zu halten. 

- "ruSSZmiddelmiSSZbruk" -     (=Rauschmittelmissbrauch) 

Bloß nicht hier anfangen zu lachen. Scheiße, ich saß auch noch direkt neben meiner Chefärztin! 

- "benSSZodiaSSZepin" -

Gerade so konnte ich das akut ausbrechen wollende Lachen in ein beide Wangen aufblasendes Grunzen umleiten. Mist, war das peinlich! Kennt ihr das? Gerade in solchen Situationen, wichtige Besprechung mit allen Ärzten der gesamten Lofoten (ca. 25-30 Stück), die Chefärztin sitzt direkt neben einem, bahnt sich ein Lachkrampf an. Wie damals als Kind beim Gottesdienst, als alles still war und der Pfarrer uns mit todernster Miene verkaufen wollte, dass er jetzt Fleisch aus diesem Knäckebrot zaubern wolle und wir das dann essen dürften. Haha. Mit gerunzelter Stirn ging er herum und sagte bedeutungsvoll "Der Leib Christi.", als er jedem Kind einen Krumen dieses albernen Wasa Crisp in die Hand drückte. Er sagte das so ernst, dass man fast denken mochte, dass er diesen Quatsch selbst glaubte. Ich konnte nicht mehr und fing an, loszuprusten und die neben mir stehende Inken gleich mit. Ich habe mich nicht mehr eingekriegt! Diese Lachkrämpfe werden dann auch noch dadurch aufrechterhalten und verstärkt, dass einem in dieser Situation andere lustige Dinge aus der Vergangenheit einfallen und sich die abstrusesten Assoziationen im Gehirn breit machen. So musste ich mir den Pfarrer damals als Verkäufer bei McDonalds vorstellen: "Wie hätten Sie Ihren Leib Christi gern? Heute paniert als ChristiMcNuggets oder lieber einen Jes-Burger? Gern.
Mit Ketchup? Wenn Sie das Happy-Crucy-Menü bestellen, ist ein 0,3er Blut Christi gratis mit drin. Sechs neunundneunzig. Danke. Guten Appetit!"
Im gesunden menschlichen Körper gibt es nur drei Beispiele von positiver Rückkopplung, also dass ein Zustand sich selbst verstärkt, alles andere funktioniert mit negativer Rückkopplung. Der Lachkrampf ist wohl der vierte, in der Physiologie einfach noch nicht beschriebene Zustand, der einer positiven Rückkopplung unterliegt.

- "et glaSSZ vin og en flaSSZke SSZnapSSZ" -

HAHAHAHAHAA! Zum Glück gelang es mir irgendwie noch, ein lautes Lachen abzuwenden und dem Vortrag brav bis zum Ende zu folgen. Die Abhängigen haben es echt gut dort, sie dürfen auf dem Fjord segeln und es gibt eine Autosportgruppe! Letztere erfreue sich wohl besonderer Beliebtheit und sie hätten dafür extra ein paar alte Autos dafür gekauft, berichtete der Klinikchef. Ich hege ja den Verdacht, dass er das ganze als Selbsttherapie gegründet hat...

Die restlichen Vorträge waren dann nicht mehr so unterhaltsam, aber manche dafür recht interessant, wenn auch nur von lokaler Bedeutung. Bespielsweise, ob Frauen in Zukunft in Stokmarknes auf den Vesterålen gebären sollen, wo es eine komplette Geburtsabteilung gibt. Man einigte sich darauf, dass sie weiterhin im Lofotenkrankenhaus gebären dürfen. In Notfällen und bei schlechtem Wetter könnte man schließlich auch hier Kaiserschnitte ("keisersnitt") durchführen, hieß es. "Klar", dachte ich mir, "bei gutem Wetter wollen die Operateure schließlich lieber Ski laufen oder angeln gehen." Das mit dem Wetter hatte dann aber doch nur die Bewandtnis, dass das Ambulansefly bei schlechtem Wetter nicht fliegen kann und normalerweise werden Frauen damit ins nächste größere Krankenhaus nach Bodø auf dem Festland geflogen, um sich dort Kaiser schneiden zu lassen (oder schreibt man das trotz Rechtschreibreform klein und zusammen?). Ein schöner Ausflug auf Kasse!

Während ich mir Mühe gab, den Vorträgen, die bis abends um 8 gingen, aufmerksam zu folgen, nahm die Chefärztin Inga neben mir die Sache nicht so ernst und suchte nach Ablenkung. "Guck mal, eine Möwe!", stupste sie mich an und zeigte aus dem Fenster. Wirklich, eine Möwe. Sogar eine recht große Möwe, die auf dem Fensterbrett saß. Man muss allerdings hinzufügen, dass die Aussage "Guck mal, eine Möwe!" hier ungefähr den gleichen Sensationswert hat wie die Aussage "Guck mal, ein Auto!" in Berlin. Die Möwe blickte kurz auf die PowerPoint-Präsentation und entschloss sich dann kurzerhand, weiterzufliegen.
Aber wir hielten brav durch und um 20 Uhr gab's dann endlich das versprochene "Middag", wahrend das große Hurtigruten-Schiff auf dem in der Sonne glitzernden Wasser ablegte, die Möwen kreischten und das tiefe sonore Horn von den Bergen widerhallte. Urlaub müsste man hier haben!


Das war zwar nicht im Hotel, sondern bei mir zu Hause, aber es sah so lecker aus, dass ich es fotografieren musste...

Dienstag, 1. Mai 2012

Alltag auf 68° Nord

"Im Dienst vergesse ich immer zu essen", stellte die etwas beleibtere Turnusärztin Nina neulich fest, als sie am frühen Nachmittag plötzlich vom Hunger überwältigt wurde. Ihr Kollege Magnus drehte sich kurz mit seinem Schreibtischstuhl um: "Und ich denke an nichts anderes! Und ans Skilaufen natürlich." Eine Aussage, die ich gewiss unterschreiben konnte. 3 Turnusärzte arbeiten hier tagsüber, einer für Station A, einer für Station B und einer hat Tagdienst, nimmt also neue Patienten auf. Nachts und am Wochenende ist es dann nur einer für das gesamte Krankenhaus, das neben den genannten Stationen noch über eine 4-bettige hier sogenannte "Intensivstation" und eine chirurgische Station verfügt. Frauenheilkunde und Psychiatrie sind extra besetzt, klar, die komplizierteren Patienten brauchen spezialisierteres Personal.
Das Büro der Turnusärzte liegt im 2. Stock, also ganz oben im Krankenhaus, mit Fenster nach Süden und damit Blick auf den noch schneebedeckten Nordhang des Hügels Sundsheia direkt hinter dem Krankenhaus. Der Hügel ist zwar nur 285m hoch, aber die felsige Steilheit des Nordhangs und die meterhohe Wechte am "Gipfel"kamm lassen ihn gleich alpiner wirken, zumindest jetzt im Winter. Oder offiziell Frühling, aber daran war zumindest die letzten 3 Tage nicht zu denken, als bei 2-3°C Schnee- und Regenstürme über die Inselkette fegten, gegen die ich mit meinem Fahrrad im 1. Gang kaum ankam. Kam der Wind von der Seite, musste ich mich so stark dagegen lehnen, dass ich die Befürchtung hatte, dass die Reifen auf der nassen Fahrbahn jeden Moment seitlich wegrutschten. Einen solchen Sturm habe ich noch nie auf dem Rad erlebt! Und immerhin war ich auch an dem Tag in Berlin auf dem Rad unterwegs, als der Wind einen Teil des Hauptbahnhofs in Schutt und Asche legte. Einen sehr kleinen Teil zwar, aber immerhin. Das passierte hier zwar nicht, was aber auch kein Wunder ist, da es hier keinen Hauptbahnhof gibt. Überhaupt gibt es keinen Bahnhof auf den Lofoten, nicht mal einen kleinen wie in Oestrich-Winkel. Teilweise gibt es nicht einmal Bushaltestellen. Man muss wissen, wo der Bus entlangfährt und wann ungefähr und dann stellt man sich an eine geeignete Stelle an die Straße und signalisiert dem Bus, dass man gerne mitfahren möchte. Im Prinzip klappt das gut, aber es ist ein Albtraum, wenn man nicht weiß, wo genau die Linie langfährt (so genau steht das auch nicht im Fahrplan).

Aber jetzt habe ich ja ein Fahrrad! Wie immer testete ich bei der Übergabe Reifendruck, Bremsen und Licht und wurde durch letzteres von Willy, dem neben mir stehenden Mitarbeiter der Technischen Abteilung des Krankenhauses, als Lofoten-Anfänger überführt: Hier wird's doch nie dunkel, zumindest nicht vor August! Die einzigen Orte, an denen es hier im Moment dunkel ist, sind zum einen der Nappstraumen-Tunnel, der meine Insel Vestvågøy mit der benachbarten Insel Flakstadøy verbindet und dabei bis auf knapp 100m unter den Meeresspiegel abfällt (und zum Leidwesen der Radfahrer auf der anderen Seite auch wieder genau so weit ansteigt) und der Røntgendemonstrasjonsrom im Krankenhaus, in dem uns jeden Montag, Mittwoch und Freitag Morgen die Röntgenbilder der aktuellen Patienten vorgeführt werden. Die Kombination aus Uhrzeit, Dunkelheit und Thematik stellt hierbei stets ein anspruchsvolles Training für meine Augenlider dar. Aber Jon, der alte weißhaarige Radiologe, den ich für sein Osloer Bokmål-"Hochnorwegisch", wie es im Buch steht, jedes Mal umarmen könnte (die Lofoten-Ureinwohner haben einen katastrophalen Dialekt und scheuen sich nicht, diesen gegen mich einzusetzen), lockert die Bildpräsentation stets gekonnt auf. Ob er auf dem gezeigten Bauch-Röntgenbild eines korpulenteren Patienten Zeichen für einen Darmverschluss erkennen könne? Nein, das könne er nicht. Aber er könne erkennen, dass der Patient zu allen Mahlzeiten zu Hause gewesen sei. Zum Computertomogramm des Gehirns einer Patientin erklärte er, dass er dort nichts Krankhaftes erkennen könne, lediglich altersentsprechende Veränderungen. Worauf er kurz innehielt, sich zu uns umdrehte und etwas entsetzt feststellte, dass er ja 10 Jahre älter als die Patientin sei.

"alt" heißt auf Norwegisch übrigens "gammel" (außer im Chor, da heißt es "alt"), eine "gammel dame" ist hier keinesfalls eine Beleidigung, während man sich in der Konditorei durchaus beschweren darf, wenn man "gammel kake" angedreht bekommt. Hier eine kleine Sammlung Norwegischer Wörter:

bløtkake (wörtlich: "Weichkuchen", in seine Untersuchungsberichte muss man hier auch immer "abdomen bløt" schreiben) = Sahnetorte
Mini Fras = eine Sorte Getreidekissen als Müsli (schmeckt nicht viel besser als es klingt)
øl = Bier
slaps (sprich: "Schlaps") = Schneematsch
mellomgulv (wörtlich: "Zwischenboden") = Zwerchfell
prosit! = Gesundheit! (wenn jemand niest)
bukse med strikk = Hose mit Kordel
avføringsprøve (wörtlich: "Abführungsprobe") = Stuhlprobe
brannslange (sprich: "Brannschlange") = Wasserschlauch zum Feuerlöschen

Generell ist eine "Slange" hier ein Schlauch, so bekommen die Patienten vor der Koloskopie erklärt, dass ihnen "eine Slange in den Enddarm gesetzt wird", bei der Magenspiegelung hingegen müssen sie die "Slange schlucken". Ein wenig eklig die Vorstellung...

Abgesehen davon sind viele Wörter gleich oder ähnlich wie im Deutschen, werden aber etwas zweckmäßiger geschrieben, "anestesi" oder "grateng" zum Beispiel. Oder auch:

sjåfør (sprich: "Schofför") = Fahrer
nøytrofile (= Neutrophile, eine besonders kampfeslustige Sorte weißer Blutkörperchen)
fysioterapi
keisersnitt
platå = Plateau

"Wie bitte?" wird hier sehr pragmatisch mit "Hæ?" übersetzt. Etwas anständiger als die Schweden sind die Norweger aber dennoch, "Taschenlampe" heißt hier ganz unspektakulär "lommelys", auf Schwedisch hingegen "ficklampa".

Da es im Krankenhaus oft schlecht ankommt, wenn man seinen Fotoapparat zur Visite mitnimmt und fröhlich drauflos knipst, gibt's stattdessen mal wieder ein paar Bilder der Umgebung, in der Hoffnung, dass es nicht langweilig wird:

im Hintergrund die Halbinsel, auf der mein Wohn- und Arbeitsort Gravdal liegt

Flakstadøy und der offene Atlantik

auf der Südseite meiner Halbinsel, hier liegt kaum noch Schnee

Richtung Vestfjord

der Nappstraumen, im Vordergrund die Box mit dem Gipfelbuch




Mittwoch, 18. April 2012

Mit Gerd und Geir in Gravdal

Og selvfølgelig med musen og elefanten. Das war Norwegisch.


Erster Tag im Nordlandssykehus Lofoten in Gravdal! Zwar war ich schon mal hier und das Krankenhaus ist nicht unbedingt überwältigend groß, eher im Gegenteil, aber dennoch musste ich kurz vor den Fahrstühlen stehen bleiben und überlegen, wo ich eigentlich hin musste. Verdammt, schon wurde ich von einer Patientin angesprochen! Immer wieder ist es eine blöde Situation, professionell aussehend im weißen Kittel irgendwo in einem neuen Krankenhaus zu stehen und dadurch von den Menschen ohne weißen Kittel sofort aus Auskunft angesehen und belagert zu werden wie der Eiswagen von einer Horde Kinder. Die üblichen Fragen reichen hierbei von "Wie komme ich denn am schnellsten zum Bahnhof?" über ein hektisch, häufig mit beiden Händen auf den Oberbauch gepresst vorgebrachtes "Wo ist das Klo?! Ich muss mich umgehend übergeben!" über ein "Sind Sie hier der Oberarzt?! Wir warten schon seit 15 MINUTEN!" bis hin zu "Mein Sohn hatte einen Kettensägenunfall und wurde in dieses Krankenhaus gefahren. Haben Sie ihn irgendwo gesehen? Oder seine linke Hand?" bis hin zu "Herr Dokter, würde es Ihnen was ausmachen, mal kurz einen Blick auf meinen Fußpilz zu werfen?".

In diesem Fall jedoch war die Frage der Patientin "Wie heißt du?". Mein Selbstbewusstsein stieg, ich wusste die Antwort! Eine einfache 50€-Frage (bzw. 375kr-Frage). Es ist an dieser Stelle zu erwähnen, dass sich Norweger grundsätzlich duzen, unabhängig von Alter, sozialem Status usw. Eine nette Angewohnheit, wie ich finde, die auch Ausdruck einer ganzen Lebenseinstellung ist. Arroganz, Überheblichkeit und sich in den Mittelpunkt zu stellen wird hier nicht gutgeheißen und selbst wohlhabende Leute stellen ihren Reichtum selten mit extravaganten Autos oder Häusern zur Schau. Auch sind Geschäftsleute selten mit Anzug und Schlips anzutreffen, eher mit guter Outdoorkleidung, was zugegebenermaßen auch an Infrastruktur und klimatischen Bedingungen liegen kann. Bei allen norwegischen Inlandsflügen gibt es unabhängig von der Fluggesellschaft nur eine Klasse, ebenso bei der Eisenbahn. Oder um es mit den Worten einer korpulenten und chronisch miesgelaunten Berliner Mensa-Angestellten zu sagen, die mir einst mit der großen Kelle einen Klecks Kartoffelpüree aus 30cm Höhe in einer Manier auf den Teller sprotzte, als wolle sie ein lästiges Insekt abschütteln und von mir dann betont freundlich gefragt wurde, ob ich eventuell eine Klitzekleinigkeit mehr bekommen könnte: "Kriegen alle dit selbe hier!"

Aber zurück zur ca. 40-jährigen norwegischen Patientin auf dem Korridor vor den Fahrstühlen. Beim nächsten Satz verstand ich irgendwas von einem Krieg gegen Schweden. Mein Norwegisch musste mir mal wieder einen Strich durch die Rechnung machen, immerhin ruhte es 3 Jahre unbenutzt irgendwo tief in meinem Parietallappen. (Oder vielleicht auch im Plexus choroideus, Neurologie war noch nie meine Stärke...) Also frug ich noch einmal nach, und tatsächlich, die Dame erzählte mir, dass ihr Vater im Krieg gegen Schweden gekämpft habe. Aber ich sei ja sicher nach dem Krieg geboren, stellte sie fest. Ja, sagte ich, dass sei ich. Und ich hatte schon ganz vergessen, dass in diesem Krankenhaus die psychiatrischen Patienten auf den normalen internistischen Stationen liegen und man dadurch manchmal in abstruseste Konversationen verwickelt wird.
Ganz hundertprozentig sicher war ich mir dann aber auch nicht... Ein Blick ins Internet bestätigte meinen Verdacht, dass der letzte schwedisch-norwegische Krieg deutlich länger zurücklag als der Vater der Patientin alt gewesen sein konnte, selbst wenn es damals schon blaue Pillen gegeben hätte.

Viele der Ärzte von vor 3 Jahren waren leider nicht mehr hier, einige aber erkannte ich wieder! Bettina, die deutsche Oberärztin, Vera, die schwedische Kardiologin (die trotz ihrer Fachrichtung nicht "Pamil" mit Nachnamen heißt), Øyvind aus dem Vestland, inzwischen Assistenzarzt und nicht zuletzt Pfleger Inge und Schwester Gerd. Und der zottelige Dialysepfleger Geir, der jeden Freitag Waffeln bäckt! Damals qualmte es ein Mal so sehr, dass im gesamten Gebäude der Feueralarm losging. Oberarzt Jörg und ich stürmten in Richtung Dialyse, wo die Quelle des Alarms liegen sollte, öffneten die Tür und sahen durch den Qualm nur schemenhaft die 3 Patienten in ihren Betten
am anderen Ende des nicht allzu großen Raums, von denen einer kräftig hustete. In der Mitte des Raums jedoch stand Geir mit seinem Waffeleisen auf dem Arbeitstisch und pfiff fröhlich eine Melodei. Etwas sauer entrüstete Jörg sich, während er versuchte, mit den Händen den Qualm vor seinem Gesicht wegzuwedeln: "Geir, sowas kannst du nicht machen!" - "Aber heute ist Freitag", sagte Geir völlig verständnislos mit dem Gesichtsausdruck eines Kindes, dem man gerade erzählt hat, dass es zu Weihnachten keine Geschenke bekommt: "und Freitag ist Waffeltag."

Ja, Norweger haben zum Teil komische Namen. Hier eine Auswahl (erweiterbar):

Männernamen:
-Inge
-Geir
-Åsgeir
-Torgeir
-Torstein
-Thorbjörn
-Ingfred
-Svein
-Gudbrand

Frauennamen:
-Gerd
-Åshild
-Alfhild
-Yngvild
-Synnøve (ich hab da spontan immer Gelenkschmiere vor Augen)

Und das hier war mein Feierabendspaziergang auf den Hügel hinterm Krankenhaus und runter zum Fjord! Und wie war dein Feierabendspaziergang?



Freitag, 13. April 2012

3 Jahre später

Meine Güte, wie soll das bloß werden? Die Dänen in meinem Reisebus nach Kopenhagen sind kaum zu verstehen, obwohl sie fast die gleiche Schriftsprache haben wie Norweger. Die Aussprache hingegen könnte man als Nicht-Däne nur zustanden bringen, indem man sich eine große Kartoffel in die Wange steckte und alle Konsonanten wie "L" ausspräche.

7,5 Stunden dauerte die Fahrt von Berlin nach Kopenhagen an diesem Ostersamstag, davon knapp 2 Stunden auf der Fähre Rostock-Gedser, die trotz für die Ostsee ansehnlichen Wellengangs bei straffem Nordwind ruhig über das Meer glitt. Mein Segelkumpel Max war an diesem Tag auf einer Segelyacht auf der Ostsee unterwegs und ich war durchaus etwas neidisch. Das Essen an Bord ließ bereits erkennen, dass wir uns Skandinavien näherten: Hot Dog oder Wurst, Fleisch oder Fisch mit Wahlweise Pommes oder Kartoffelbrei. Da griff ich doch lieber auf ein paar Scheiben der drei 500g-Brote in meinem Rucksack zurück. Ja, große Mengen an Essen waren nötig, denn ich hatte mich entschlossen, die Reise auf die Lofoten komplett auf dem Landweg zurückzulegen (die Fähre Rostock-Gedser mal ausgenommen) und würde über zwei Tage unterwegs sein. Das hatte den Vorteil, dass ich im Gegensatz zum Fliegen so viel Gepäck mitnehmen konnte wie meine Beine es zuließen. Und das war relativ viel, so durfte ich feststellen, als ich mich in Kopenhagen in einem Tempo, in dem mein von Gonarthrose geplagter 90-jähriger Opi mich spielend auf einem Bein hüpfend links überholt hätte, die unter meinem Gewicht ächzenden Holztreppen in den 4. Stock des Altbauhauses zu meinem Zimmer bei Bente Willumsgaard hinaufarbeitete.

Die Wohnung war riesig, aber ur-gemütlich, wahrscheinlich waren es mehrere miteinander verbundene Wohnungen und mir wurde an dem Abend nicht klar, wer dort eigentlich alles wohnte und wer auch Gast war: Es waren die auf ihre dänische Art unglaublich netten und freundlichen Bente und ihr Mann dort, trotz der späten Stunde mindestens 10 fröhlich hin- und herwetzende Kinder, ein weiterer sehr nett aussehender Däne sowie zwei Frauen, die relativ sicher ein lesbisches Pärchen waren. Das ganze wirkte wie eine sehr sympathische, offene, alternative Wohngemeinschaft. Mein Zimmer lag direkt neben einer nostalgischen Küche mit riesigem gusseisernen Gasherd und einer auf alten massiven Holzregalen stehenden wahrhaftigen Kollektion an zylinderförmigen großen Gläsern mit unzähligen verschiedenen Nudelsorten. Die Aufforderung des Gastgebers an die Kinder, mir zuliebe ruhiger zu sein, war überflüssig, denn ich fiel wie ein Stein ins Bett.

Um halb acht am Ostersonntag klingelte mein Wecker und nur die zwei lesbischen Frauen waren schon auf den Beinen und bereiteten sich dankbar mit dem Rest des von mir in einem alten verrußten Teekessel zum Kochen gebrachten Wassers einen Kaffee. Die Sonne schien durch die glasklare nach Winter riechende Luft, als ich durch die menschenleere Stadt zum Hovedbanegård lief, der trotz meiner wohl um die 45kg Gepäck nur 10min entfernt lag; Die Wohnung der Willumsgaards lag schön zentral, direkt am Südufer des St. Jørgens See.



Jetzt begann der lange Teil meiner Reise: mit dem Øresundtåg über die Öresundbrücke nach Malmö/Schweden, dann mit einem schwedischen Schnellzug nach Stockholm und von da mit dem Nachtzug nordwärts und quer durch Lappland und auf der Erzbahn über die Grenze nach Narvik in Norwegen. Kurz vor Nattavaara wachte ich auf, öffnete die Jalousie und musste blinzeln, als mich die endlosen schneebedeckten Weiten Lapplands in der strahlenden Morgensonne anlachten. Der Zug war wirklich toll, es gab am Wagenende eine Dusche, welche zu benutzen auf der kurvenreichen Strecke lustig war, da der Lokführer einen durchaus sportlichen Fahrstil an den Tag legte. Gegen Mittag wurde die Landschaft bergiger und auf der rechten Seite tat sich ein tiefes Tal auf, auf dessen Grund der Anfang des ersten Fjords auf dieser Reise zu sehen war! Langsam arbeitete sich der Zug sich mit kreischenden Rädern talwärts und um 13:19 Uhr erreichten wir pünktlich Narvik. Die Temperatur lag nicht weit über dem Gefrierpunkt, doch in der windstillen prallen Mittagssonne konnte ich es wie die Norweger um mich herum angenehm im T-Shirt aushalten, als ich auf den Lofotekspressen wartete, den Bus, der mich nach weiteren knapp 6 Stunden Fahrt über Brücken und Kurven um Berge und Fjorde herum direkt vor den Türen meines Krankenhauses auf dem verschneiten Fahrweg aussetzen würde. Dankbar inhalierte ich die frische Meeresluft und genoss die Stille der Abenddämmerung, in der das Knirschen meiner Wanderstiefel im Schnee das einzige Geräusch weit und breit war.


Kaum zu glauben, aber um 22 Uhr ist es immer noch hell! Und es werden jeden Tag 8min mehr, heute ist es also schon über eine halbe Stunde länger hell als noch am Montag und in 2-3 Wochen wird es gar nicht mehr dunkel werden.



Nicht besonders ereignisreich, aber dynamischer als Fotos: ein Video von der Fahrt:


In der Eisenbahn kurz hinter der schwedisch-norwegischen Grenze, 40min vor Narvik. Leider hat Blogspot ungefragt die Qualität des Videos massiv herabgesetzt, am besten nur im kleinen Fenster angucken.