Samstag, 30. Juni 2012

Alles kalt macht der Mai

Lange ist's her, dass ich das letzte Mal etwas geschrieben habe! Und das, obwohl ich hier so viel erlebt habe. Oder gerade, weil ich hier so viel erlebt habe? Hier ein Bericht über die letzten Tage im Mai.

"Das ist der kälteste Mai, den ich hier je erlebt habe", sagte der nette alte Besitzer des Campingplatzes auf Røst, der abgelegensten bewohnten Insel der Lofoten, "und ich wohne seit 33 Jahren hier". In Tromsø ein Stückchen nördlich von hier waren in diesen Tagen 8cm Neuschnee gefallen. Wir waren zwar nördlich des Polarkreises, aber der eiskalte Starkwind, der meiner Besucherin Kerstin und mir mehrmals täglich Regen- und Schneeschauer gefühlsmäßig durch Haut und Unterhautfettgewebe hindurch direkt auf die Knochen peitschte, war wohl selbst hier oben jenseits des Normalen. Außerdem gab es noch eine weitere Art Niederschlag, dessen Namen ich nicht kannte, der aber im Gesicht piekte und bei dem mir als werbungsverseuchtem Menschen sofort die Assoziation  "Megaperls" kam. Das Zeug machte meine königsblaue Fleecejacke auch wirklich innerhalb von Minuten weiß. "Und ihr wollt wirklich zelten?" Für  ausnahmsweise nur 100€ würde er uns eine Campinghütte anbieten. "Wir  wollen die Hütte doch nicht kaufen!", dachte ich. Und der Zeitraum wäre ohnehin nicht lang, schließlich war es schon 23:30 Uhr und um halb sieben würden wir wieder aufstehen müssen, um unser Propellerflugzeug nach Leknes zu kriegen. Nur ein Blick auf die Uhr verriet, dass es schon so spät war. Im Gegensatz zu den anderen Inseln der Lofoten ist Røst eine Ansammlung von  Schären und flach wie ein Eierkuchen, keine Berge, die die Sonne verdeckten. Und so schien sie, wenn keine Wolken im Weg waren, rund um die Uhr. Die Nacht davor hatten wir auf Røsts Nachbarinsel Værøy wild gezeltet, in einem abgelegenen Teil der Insel, wo es bis auf Kräuter, Berge und Meer nicht viel gab. Zu hören waren nur ein paar Möwen und das Sausen des Windes, der unentwegt an den Leinen meines Hubba Hubba riss. So heißt mein Zelt, im Gegensatz zur Einmannversion, die nur "Hubba" heißt. Aber laut Testbericht hätte das Zelt in Florida 80km/h schnellen Gewitterstürmen mit Regen standgehalten, auch wenn sich das Gestänge dabei bis fast auf den Boden  durchgebogen habe. Das verlieh uns genug Optimismus, um das Zelt alleine zurückzulassen und uns dem höchsten "Berg" der Insel zu widmen, der zwar bequem zu erwandern und nicht mal 500m hoch war, auf der Nordseite aber als Steilwand bis zum offenen Atlantik abfiel, was die Aussicht famos machte! Allerdings bekamen wir dort oben auch zu spüren, wie sich der Wind ohne den Windschatten des Berges anfühlte und die donnernden Wellen unter uns sprachen auch ihren Teil. Das hatten wir zu unserem Leidwesen auch schon auf den Fährfahrten von der Hauptlofotenkette nach Værøy und später von Værøy nach Røst erleben dürfen. Teilweise fiel der Bug der sehr großen Fähre von einer Welle angehoben so tief ins Wellental hinab, dass er in die nächste Welle eintauchte und das schäumende Wasser und die Gicht (wie der Mediziner sagt) bis an die Fenster des sicherlich knapp 10m oberhalb der Wasseroberfläche gelegenen Salons schaufelte. Ein tolles Schauspiel! Fand mein Magen nur leider nicht. Und die Mägen der meisten anderen auch nicht. Es war schon beim unserem Zusteigen in Moskenes verdächtig gewesen, dass fast alle der die knapp 4h Überfahrt vom Festland schon hinter sich habenden Reisenden auf halb acht auf den Bänken hingen und es Totenstille herrschte. Bis auf einen hinter uns sitzenden verhaltensauffälligen Südländer, der die gesamte Fahrt über stereotyp eine bestimmte kurze Wortfolge agitiert flüsternd wiederholte. Betete er etwa?

Norwegisch-Lektion des Tages:
"magen" = der Bauch
"magesekk" ("Magensack") = der eigentliche Magen
"kvalm" = übel
"kaste opp" (wörtlich: "aufwerfen") = sich übergeben
Achtung, Falle: "brekke seg" (wörtlich "sich brechen") heißt nur "würgen"
"reisesykepose" ("Reisekrankheitstüte") = Übergabebeutel
"det blåser" ("es bläst") = es ist windig
"det kommer luft" ("es kommt Luft") ist hingegen nur im gastroenterologischen, nicht aber im meteorologischen Sinne zu gebrauchen

Auf Værøy. Windstärke 7. Hubba Hubba steht.

Aussicht vom höchsten Berg Værøys

Schauer fegen über die Insel.

Zwischen den beiden benachtbarten Inseln Værøy und Røst herrschte eine Rivalität, wie uns der "Campingplatz-Opi", wie wir ihn liebevoll nannten  erzählte, als er uns am nächsten Morgen netterweise mit seinem VW-Bus bis zum Røster Flugplatz fuhr. "Wenn die Möwen sich Værøy nähern, drehen sie sich im Flug auf den Rücken und fliegen verkehrtherum weiter, damit sie diese hässliche Insel nicht sehen müssen", erzählte er uns lachend. Uns gefielen trotzdem beide Inseln sehr gut, die flachen Fischerschären von Røst und die bergige Insel Værøy mit ihren Sandstränden und dem Katzenkopf-Felsen gleich neben dem Hafen, der von weitem allerdings mehr nach einem Bären aussah, der wie beim Banküberfall beide Tatzen über den Kopf hob. Außer Tieren aus Stein hat Værøy sogar eine eigene Hunderasse mit dem witzigen Namen "Lunde-Hunde". Diese haben früher Jagd auf die hier sogenannten Lundevögel (deutsch: "Papageientaucher") gemacht. Jetzt gibt es weniger Lundevögel, aber auch weniger Lundehunde, denn auf so einer abgelegenen Insel kann man sich schließlich nur mit Mitgliedern der eigenen Familie vermehren und das führt bekanntlich zu fiesen Erbkrankheiten, im Fall der Lundehunde zum Tourette-Syndrom. Und so fliegen die Lundevögel schon weg, sobald sie die näher kommenden Schimpfwörter hören und der arme fluchende Lundehund noch einen Kilometer entfernt ist.

45 Minuten vor dem Abflug waren wir die ersten am Flughafen, dessen Zufahrtsweg nicht einmal durchgehend asphaltiert war. "Kerstin und Torsten?", fragte die Dame am Schalter an der Seite des kleinen Abflugbereiches, der nicht viel größer als mein Zimmer im Schwesternwohnheim war. Sie druckte unsere Bordkarten aus, plauderte kurz über das Wetter und bat uns, noch ein bisschen zu warten oder einen Spaziergang zu machen, da der Mann von der Sicherheitskontrolle noch nicht da sei. In Røst landen werktags zwei Flugzeuge am Tag, eins morgens um kurz vor neun und eins abends um halb acht. Ich fragte mich, was die immerhin 3 Flughafenmitarbeiter wohl den ganzen restlichen Tag über taten? Besonders der, der mit den zwei Kellen das Flugzeug zu seiner Parkposition winkte, erschien irgendwie entbehrlich, schließlich gab es sowieso nur eine Parkposition und die war quer vor dem Gebäude. Vielleicht machten die das als Nebenjob oder ehrenamtlich? "Guten Tag, ich heiße Morten, bin Grundschullehrer und in den Sommerferien arbeite ich als Flugzeugeinwinker." Wer weiß, wie die Dinge auf einer so kleinen Insel funktionieren? Die Touristeninformation ist auch nur eine Stunde pro Tag geöffnet, immer nach Ankunft der Fähre.
Doch diese Frage konnte ich mir nicht mehr beantworten lassen, denn schon traf unsere kleine Dash-8-100 ein, einige Leute stiegen aus und zwei weitere Reisende und wir stiegen ein. Mit diesen kleinen Widerøe-Flugzeugen zu fliegen ist für Nord-Norweger nichts anderes als Stadtbus zu fahren. Analog dazu hatte das Flugzeug auch Zweierreihen rechts und links des Ganges und die letzter Reihe bestand aus einer 5er-Bank, Türen gab es nur vorne. 
Das dichte Netz aus Kurzbahnflugplätzen mit mehreren täglichen Flügen ermöglicht vor allem hier in Nordnorwegen vielen noch so abgelegenen Orten eine relativ zügige Anbindung an den Rest des Landes. Viele Orte wie Leknes und Røst, Røst und Bodø oder Svolvær und Narvik sind Luftlinie zwar nur um die 100km und damit 25 Flugminuten voneinander entfernt, der Geografie wegen entspricht das aber trotzdem oft 4-5h Auto- und/oder Fährfahrt. (Man stelle sich mal bei uns Flüge Tegel-Jüterbog oder Schönefeld-Neuruppin vor.) So gibt es hier in Leknes zur Zeit die für uns Deutsche sehr absurd klingende Situation, dass die Einwohner einen Ausbau des Flughafens fordern, die Politik sich aus Kostengründen aber dagegen sträubt.


Brandung am Flughafen Røst. Im Hintergrund Værøy.

Røst - flach wie eine Anorektikerin!

Der Warteraum des Flughafens: 4 Tische mit Stühlen, 1 Süßigkeitenautomat, 1 Klo.
Landeanflug auf Leknes. Da unten wohne ich!

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